SCHÄM DICH!

von Irène Schäppi 24 Mai 2023

SHAME ON YOU!

Kaum zu glauben, aber wahr: Das Frauen haben erst seit 1971 das Recht abzustimmen. Aus diesem Anlass hat unsere co-founderin Irène Schäppi im November 2020 in Zusammenarbeit mit ihrer Freundin Dr. Isabel Rohner das Sachbuch «50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz» (erschienen im Limmatverlag Zürich) herausgegeben. Und sich darin auch selbst mit ihrer Rolle als Frau in einer nach wie vor patriarchalischen Gesellschaft auseinandergesetzt. Der folgende und sehr persönliche Essay «Shame on you!» ist das Ergebnis, und wurde erstmals im erwähnten Sammelband publiziert.

Shame on you!

Während ich diese Zeilen in meinen Laptop tippe, höre ich plötzlich das unangenehme Geräusch wie sich jemand die Fingernägel mit einem Nagelknipser stutzt und möchte dieser Person sofort einen missbilligenden Blick zuwerfen. Stattdessen spüre ich wie mir die Röte ins Gesicht steigt.

Auftritt: Die Scham.

Ein etwa 60-jähriger graumelierter Herr – in einem früheren Leben war er bestimmt Inquisitor bei der Hexenverfolgung –, sitzt in seinem Hahnentritt-Dreiteiler (hallo "Peaky Blinders"!) breitbeinig auf meinem rosa Daybed in der Küche und wirft mir ein abschätziges Grinsen zu, während er – völlig unverschämt – mit der Maniküre an seinen Wurstfingern weiterfährt. Seine Message ist unmissverständlich: "Schämst du dich nicht für deine Hände? Der Nagellack blättert ab und du hast mal wieder zu fest an deinen Häutchen rumgeknabbert. Das sieht schlampig aus, wie bei einer Rotznase!" Auch mein Sonntags-Styling scheint die Scham nicht wirklich zu überzeugen: "Leggings und dieser No-Make-up-Look sind ein klares Zeichen, dass du dich als Frau gehen lässt", so das Urteil meines Schamrichters dazu.

Überhaupt, ich habe ihn ständig im Ohr. Denn die Scham möchte – egal wo ich bin oder was ich mache – immer das letzte Wort haben. Etwa wenn ich am Morgen vor der Arbeit ein körperbetontes Kleid mit High-Heels wähle und mich dazu schminke: "Das ganze Paket wirkt zu nuttig. Jammer dann bloss nicht rum, wenn deine Gspänli aus dem Newsroom einen Spruch von sich geben. Erstens verstehst du keinen Humor und zweitens hast du sie schliesslich mit deinem Outfit selbst dazu ermutigt." Greife ich dann aber zu einem Athleisurelook, also Jeans und Hoodie, grunzt er mir abfällig ins Ohr: "Jetzt machst du auf zurückhaltend, gell Schätzli? Herzig, dieser Versuch, deine Weiblichkeit in den Hintergrund rücken zu lassen."

Mein Aussehen scheint der Scham generell ein ganz grosses Anliegen zu sein: Zu jedem Thema – darunter Damenbart, Falten, ein mögliches Doppelkinn, Cellulite, Körperbehaarung ("Pfui, du hast einen Busch untenrum und die Achseln nicht rasiert?!?"), Maniküre (wie jetzt allen bekannt) sowie Pediküre, die Liste könnte hier noch endlos weitergehen – hat er etwas zu sagen. Und macht mich dabei insbesondere darauf aufmerksam, was ich hier falsch gemacht habe, bzw. wofür ich mich als Frau zu schämen habe. Weil: Für eine Lady gehört sich so etwas nicht!

Apropos Lady: Ein ganz grosses Tabu für die Scham ist meine Periode. Er findet menstruieren nämlich grusig und möchte am liebsten vergessen, dass das ein ganz normaler Prozess meines Frauenkörpers ist. Darum hält er mich bei der Arbeit regelmässig dazu an, den Tampon so unauffällig wie möglich auf die Toilette zu schmuggeln. Oder, wenn ich mal keinen dabeihabe, meine Kolleginnen ganz schüchtern und leise um Aushilfe zu bitten. Weil: Igitt!

Auch bei der Mittagspause oder während eines Businesslunch kann die Scham mich nicht in Ruhe lassen. Bestelle ich einen herzhaften Teller mit Schnitzel und Pommes höre ich ihn schon von Fern lachen: "Hahaha, deine Skinny-Jeans kannst du so auf jeden Fall vergessen!" Entscheide ich mich aber für was Gesundes, einen Salat oder Gemüse zum Beispiel, ist es auch wieder nicht recht. Denn "Männer mögen keine Frauen, die wegen ständigen Diäten keinen Spass am Essen haben", belehrt mich meine Scham.

Über das, was Männer an Frauen mögen oder eben nicht mögen, könnte ich dank meiner Scham mittlerweile ein ganzes Buch schreiben. Schliesslich begleitet er mich Tag und Nacht – und das seit Jahren. Ganz weit oben bei seinen No-Go’s: Meine eigene Meinung laut und deutlich gegenüber einer Autoritätsperson vertreten, weil selbstbewusste Frauen als Zicken gelten. In den Worten meiner Scham gesagt: "Tu nicht so schwierig!" Oder, er versucht mich in solchen Situationen klein zu machen, indem er mich als "gekränktes Mädchen" abfertigt. Dabei bin ich eine erwachsene Frau!

Natürlich habe ich in der Vergangenheit immer mal wieder versucht aus diesem Dialog auszubrechen, indem ich mich über so genannte gesellschaftliche Regeln hinweggesetzt habe. Zum Beispiel habe ich mal mehrere Männer gleichzeitig gedatet. Während dieses Verhalten unter Herren wie meiner Scham eigentlich als cool und erstrebenswert gelten sollte, gab es für mich damals kein gutes Wort. Im Gegenteil: Anstatt mir hierfür auf die Schulter zu klopfen, steckte mich die Scham sofort in ein Büssergewand. "Hure" war übrigens nicht mal das schlimmste Schimpfwort, das er mir an einem verkaterten Morgen danach – nicht umsonst "Walk of Shame" genannt – zu fauchte. Datete ich Frauen, war's aber auch nicht besser. Oder wie die Scham besserwisserisch dazu meinte: "Du hast es dir einfach noch nie so richtig besorgen lassen." Denn in seinen Augen, kann es ja nicht möglich sein, dass ich eine Frau gelegentlich dem männlichen Geschlecht vorziehe. "Ts, ts, ts", schüttelt die Scham abfällig den Kopf.

Noch schlimmer ist es mir aber ergangen, als ich vor gar nicht so langer Zeit (leider erfolglos) gewagt habe, eine Lohnerhöhung (wie war das nochmal mit der Lohngleichheit?) für mich zu fordern. Queen Cersei’s Bussgang durch die Strassen von King’s Landing in der HBO-Serie "Game of Thrones" erscheint mir an dieser Stelle wie ein Spaziergang … Trotzdem hat mich der damals nie enden wollende "Shame on you!"-Chorus meiner Scham nicht in die Knie zwingen können. Im Gegenteil. Weil nach jenem Gehaltsgespräch nämlich folgendes passiert ist.



Aus "Shame on you!", "Shame on you!", "Shame on You!" ist "Scham", "Scham", "Scham" geworden. Dieses Wort hat sich dann in "Schmach" verwandelt, woraus schliesslich "Schmacht" entstanden ist. Und am Ende: Macht. Ich konnte das Scham-Geschrei nämlich nicht mehr ertragen und habe ihn – quasi aus Notwehr – beschnitten. Genauer: Weg mit dem SCH! Gebt mir ein T! Also MACHT!

Macht. Macht. Macht. Macht. Macht. Macht. Macht. Macht. Macht. Macht. Macht. Macht.

Fünf Buchstaben, gar nicht so weit von Scham entfernt – Scham rückwärts heisst schliesslich "mach’s!" –, die aber so viel mehr Power und Aktion beinhalten. MACHT lautet nun mein neues Mantra. Darum habe ich auch mit meiner Scham was geMACHT: Ich habe den Möchtegern-Inquisitor – mit eingezogenem SCH – kurzerhand auf die Arschlochinsel verbannt und ihn durch eine neue Mitbewohnerin ersetzt.

Abgang: Die Scham.

Auftritt: Die Macht.

Eine grosse, schlanke Frau mit platinblonden Bob, die kein Problem damit hat, für sich und ihre Sache einzustehen und mit der ich in meiner Freizeit ganz wunderbar – jeweils in unseren Lieblings-Hoodie mit Wolf drauf wie in "The OA" – Stunden vor der Playstation verbringen kann, wenn ich nicht für The Goddess Collective arbeite. Das Beste daran: Im Gegensatz zur Scham fällt mir die Macht nie in den Rücken oder hat es nötig, mich aus irgendeinem Selbstdefizit heraus klein zu machen. Im Gegenteil: Die Macht steht mir wie Rey Skywalker in der letzten "Star Wars"-Triologie bei und ermöglicht es mir so gegen die Dunkelheit zu kämpfen. Oder dafür, dass mir demnächst der gleiche Lohn wie meinen männlichen Arbeitskollegen ausbezahlt wird.

Etwa morgen und jeden darauffolgenden Tag, wofür wir uns beide schon mal einen Bleistiftrock sowie schwarze Louboutins anziehen und die Lippen rot schminken werden. Denn niemand ausser mir selbst hat das Recht über mich zu urteilen, habe ich von der Macht gelernt. Letzteres ist übrigens etwas, das ich mittlerweile mit immer weniger Härte mir selbst gegenüber, dafür mit umso mehr Liebe und Selbstakzeptanz verfolge. Und das ist gut so. Ich habe es also selbst in der Hand, wie ich mich sehen und von anderen gesehen werden will: Eine Freu, die sich selbst liebt, stolz auf ihr Leben ist und für Gleichberechtigung kämpft.

Last but not least: Auf der Arschlochinsel gibt's noch ganz viel Platz!

 

 



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